Behinderte gibt es überall auf der Welt, in Deutschland und auch in Indien. Es gibt nur verschiedene Wege mit ihnen umzugehen. Man kann sie aussetzen, verstoßen oder sich um sie kümmern. In meinem jetzigen Projekt kümmere ich mich um behinderte Menschen. Ich habe zuvor noch nie mit behinderten Menschen gearbeitet, doch ich bin mir sicher, dass das ganze in Deutschland anders abläuft.
Seit Anfang März bin ich in der
Spandana Special School in der Nähe von Udupi untergebracht. Das ist
ein Rehabilitierungszentrum für behinderte und psychisch kranke
Männer. Es sind immer um die 30 Männer in Behandlung, mit den
unterschiedlichsten Behinderungen. Insgesamt haben schon 67 Männer
die Einrichtung besucht, die sind teilweise wieder zuhause und kommen
bloß manchmal wieder. Geleitet wird die Einrichtung von Janardhan
und Umesh, einem ausgebildeten Behindertenpädagogen und einem
Hochschulleiter. Montags bis Samstags kommen dazu zwei Lehrerinnen
und betreuen die „Kinder“, wie die Behandelten hier genannt
werden.
Janardhan, ganz links mit Studenten aus Manipal, die ein Essen gespendet haben und den Spandana Kindern |
Beim Wischen der großen Halle |
Um 6.30 Uhr beginnt jeder Tag in der
Spandana Schule. Die „Kinder“ werden aufgeweckt und müssen sich
die Zähne putzen. Danach wird geduscht. Es gibt eine gewisse
Hierarchie unter den „Kindern“: Manche sind eher aktiv, manche
eher passiv; manche sind im Stande mehr zu tun, andere sind so sehr
beeinträchtigt, dass sie fast keine Aufgabe erledigen können.
Diejenigen, die geistig fitter sind, stehen in der Hierarchie weiter
oben. Sie helfen den Betreuern dabei, dass alle ihre Aufgaben
erledigen und kümmern sich selbst um die schwierigeren Aufgaben.
Ganz oben steht Simon. Er ist sozusagen der verlängerte Arm der
Betreuer und schreckt nicht vor Gewalt zurück. Wer nicht gehorcht,
wird geschlagen. Nicht dass die Lehrer und Janardhan Simon nicht
unter Kontrolle hätten. Doch durch seinen Status unter den „Kindern“
hat er gewisse Freiheiten wie eine extra große Tasse Buttermilch zum
Mittagessen oder hier und da mal ein Schlag mehr als nötig. Er ist
es aber auch, der als erstes gerufen wird, wenn jemandem bockt, damit
er wieder für Ordnung sorgt.
Nikil |
Nikil steht weiter unten in der
Hierarchie. Er ist einer der jüngsten und erst sechs Monate in der
Spandana Schule. Manchmal putzt er sich nicht lange genug die Zähne
oder versucht sich vor dem Putzen zu drücken. Dann wird er von einer
Betreuerin oder von Simon zurechtgewiesen. Falls das nichts hilft,
bekommt er ein, zwei Schläge. Sein Respekt vor Simon ist deshalb
sehr groß. Schläge in der Erziehung sind in Indien häufig
anzutreffen, nicht nur in der Spandana Schule. Die „Kinder“
werden zwar nicht verprügelt, aber es reicht dafür aus, dass sie
aus Angst vor weiteren Schlägen die Aufgaben machen, die ihnen
aufgetragen werden. Dieses Prinzip stößt aber auch an seine
Grenzen: Wenn jemand zu sehr geschlagen wurde, protestiert er,
verweigert jegliche Handlung oder setzt zu Gegenschlägen an. Wenn
man die Gewalt auf der einen Seite sieht, muss man auf der anderen
Seite aber auch die Überforderung der Betreuerinnen sehen: zehn bis
fünfzehn „Kinder“ kommen auf eine Betreuerin. In Frankreich
seien es maximal vier bis sechs pro Betreuer, sagt Franck, der in
Frankreich als Behindertenpädagoge arbeitet. Er war im März einen
Monat lang als Freiwilliger in der Spandana Schule tätig. Er sagt
auch, dass Gewalt in der Behandlung in Frankreich nicht akzeptabel
sei. Er sehe aber selbst, dass die Menschen es hier nicht anders
kennen und die Umstände ganz andere seien als in Frankreich.
Die tägliche Routine ist für die
Kinder wichtig. Nikil hatte gerade am Anfang Schwierigkeiten und
wollte manchmal nach Hause laufen. Oft fragt er, ob seine Mutter oder
sein Onkel kommen. Die anderen „Kinder“ kriegen ab und zu Besuch
von ihren Eltern oder Geschwistern. Doch Nikils Mutter war bisher
noch kein mal da. Nur sein Onkel Varsu kommt manchmal vorbei und
bringt ihm Limonade mit. Mittlerweile scheint er sich an den
Spandana-Alltag gewöhnt zu haben.
Um 8.00 wird gefrühstückt. Der Herr
der Küche ist der taubstumme Sudhir. Jeden Tag kocht er auf offener
Flamme für über 35 Leute. Er ist im vollen Besitz seiner geistigen
Fähigkeiten, doch auch für ihn wäre es schwer in einem anderen
Privatunternehmen einen Job zu finden. Nach dem Frühstück kommen
die Lehrer. Unter deren Aufsicht wird der Boden gewischt und die
Wäsche gemacht.
Um 9 Uhr bekommen die Kinder ihre
Medizin. Da Nikil neben seiner geistigen Behinderung auch Epileptiker
ist, muss er jeden Tag Tabletten schlucken. Die machen ihn sehr müde
und träge. Von der darauffolgenden Yogastunde hat er nicht viel,
weil er gegen den Schlaf kämpfen muss. Die Yogastunde ist eine
Physiotherapie für die Kinder: Verschiedene Positionen werden
eingenommen, Muskeln werden angespannt und Bänder gedehnt. Das ist
sehr wichtig, damit die Kinder einigermaßen fit bleiben. Die meisten
können die Übungen alleine, manchen muss ich immer helfen.
Yoga Stunde |
Anschließend rollen die „Kinder“
die Yogamatten ein und bauen die Tische für den Unterricht auf.
Unterricht ist das es in entferntester Form, eher Beschäftigung. Das
ist aber auch kein Wunder: Wenn man mit drei Leuten auf 30 Menschen
aufpassen muss, die alle unterschiedliche Behinderungen haben, kann
man die nicht neben bei individuell unterrichten. An meinem
Gruppentisch zeichne oder male ich mit den Kindern. Individuelle
Fortschritte kann ich erreichen, wenn ich mich um maximal drei Kinder
gleichzeitig kümmere. Meistens sitzen aber sechs oder sieben Kinder
um mich herum, die beschäftigt werden wollen. Dem einen gebe ich
Flächen zum ausmalen, einer schreibt kurze Wörter ab und ein
anderer kritzelt mit zittriger Hand wilde Linien auf das Papier,
gerade in der Lage den Stift zu halten. Wenn ich nicht aufpasse,
stibitzt sich einer den Anspitzer und macht die Buntstifte um die
Hälfte kürzer. Wenn Nikil nicht gerade schläft, malt er seine
geliebten von mir vorgezeichneten Elefanten aus.
Malunterricht von Morten |
Um Punkt 13 Uhr jeden Tag gibt es
Mittagessen. In Indien ist es üblich zu besonderen Feierlichkeiten
etwas an die ärmeren in der Gesellschaft zu spenden. So kommt es
häufig vor, dass Menschen ein komplettes Mittagessen spendieren,
weil sie Geburtstag, Verlobung oder ein besonderes Gebet zuhause
haben. Neulich wurden die gesamten Spandana Kinder zu einer
Hauseröffnung im benachbarten Brahmavara eingeladen. Die gesamte
Einrichtung ist von Spenden abhängig. Ohne großzügige Sponsoren
gäbe es Spandana nicht. Ob Schrank, Ventilator oder Schulbank, alles
ist von irgendwem einmal gestiftet worden. Selbst das Gebäude, in
dem die Spandana Schule gerade untergebracht ist, gehört einem
niederländischen Sponsor.
„Wir sind von den Spenden abhängig,
weil wir vom Staat keine Zuschüsse bekommen,“ sagt Janardhan. Der
Staat unterstützt nur behinderte Kinder und Jugendliche. Ab dem 18.
Lebensjahr fällt diese Unterstützung weg. „Ich kann die Sorgen
der Eltern von behinderten Kindern verstehen,“ erzählt Janardhan:
„Der Sohn von meiner Schwester war auch behindert. Es ist schwer
sich neben der Arbeit genügend um ein behindertes Kind zu kümmern.
Manche Kinder brauchen quasi durchgehend Betreuung“ Die Familien,
die ihre Kinder in die Spandana Schule geben kommen alle aus der
Arbeiterklasse oder unteren Mittelklasse. Reichere Familien schicken
ihre behinderten Kinder in teure Privateinrichtungen. Einrichtungen
wie Spandana gibt es nicht viele in Indien. Auf den lokalen Treffen
der Behinderteneinrichtungen sind sie die einzige Einrichtung für
Erwachsene. Die „Kinder“ kommen teilweise aus 250 km entfernten
Orten.
„Der Umgang mit Behinderten in Indien
ist ganz unterschiedlich. Es kommt ganz darauf an, wie entwickelt
eine Region ist,“ sagt Janardhan. Er kennt Geschichten, wo ein
Behinderter an einen Baum gefesselt gelebt hat. Oft werden sie auch
in Zimmer eingesperrt, irgendwo fest gekettet oder auf der Straße
ausgesetzt, wo sie dann betteln oder verhungern.
Janardhan, ausgebildeter Behindertenbetreuer und Leiter der Spandana Schule |
Um 15.30 ist der Nachmittagsunterricht
vorbei. Jetzt ist noch eine halbe Stunde Hofgang, Spiele im Freien
und das tägliche Gebet angesagt. Danach haben die Kinder Freizeit.
Ihnen geht es gut in der Spandana Schule, auch Nikil. Trotz der
Gewalt, die ich hier teilweise täglich miterlebe, gibt es die vielen
warmen Momente in denen ich merke, wie nahe sich die Kinder und die
Lehrerinnen stehen und wie viel Freude die Kinder untereinander, aber
auch mit den Heimleitern haben. Wie gerne sich Betreuer und „Kinder“
haben. Der junge Nikil ist mit seinen Leiden hier gut aufgehoben.
Die Schule bekommt einen Sack Reis geschenkt |