Samstag, 19. Mai 2012

Bildung zweiter Wahl


Eine Freiwillige erzählt von ihren Erfahrungen in einer indischen Grundschule

In Deutschlands Schulen wird darüber diskutiert, ob elektrische Tafeln sinnvoll sind oder nicht. In Indien hat man andere Sorgen. Daniela Bröker (27) macht einen elfmonatigen Freiwilligendienst in Indien und arbeitet als Lehrerin in einer Grundschule. Sie erzählt von Parallelen und vor allem von Unterschieden zwischen dem deutschen und dem indischen Schulsystem.
typische staatliche indische Grundschule

In Indien beginnt die Grundschule um 9.30 Uhr und endet um 16.30 Uhr, zwischendurch gibt es Essen. Unterrichtet wird in den Fächern Mathe, Hindi, Kannada, Englisch, Sport und „soziale Wissenschaft“, was so etwas wie Geschichte, Werte und Normen und Erkunde in einem ist. Jedes Fach, jeden Tag. In Danielas Schule gibt es 250 Schüler, sechs festangestellte Lehrer, zwei Teilzeitangestellte und ein bis zwei internationale Freiwillige jedes Jahr. Die Grundschule geht von der ersten bis zur siebten Klasse. Schuluniformen sind Pflicht. Danielas Geschwister gehen auf eine Privatschule (vierte und fünfte Klasse). Sie haben je drei Stück: eine Wochentagsuniform, eine Samstagsuniform und eine Uniform für die schulinterne Pfadfindergruppe.
Dazu gibt es jeden Tag das fünfzehn minütige „Assembly“, eine Art Schulversammlung: Alle Schüler stellen sich in Reihe und Glied, geordnet nach Klasse auf. Der Klassensprecher steht vorne. Der Schulsprecher salutiert dem Schulleiter und den Lehrer. Das Programm besteht aus vorgelesenen Nachrichten, dem Singen der Karnataka- und der indischen Nationalhymne und einer Art Morgensport mit Dehnübungen und Hampelmann.

Der Unterschied, der am deutlichsten ist, besteht darin, dass es in Indien stark in Privatschulen und in staatliche Schulen unterteilt ist. Und die Unterschiede zwischen Privatschule und staatlicher Schule sind gravierend. Die staatlichen Schulen sind kostenfrei; die Privatschulen verlangen Mitgliedsbeiträge. Daniela ist in einer Kannada-sprachigen staatlichen Schule. „Die staatlichen Schulen sind krass unterfinanziert. Das merkt man an allen Ecken: Die Tafeln auf denen wir schreiben sind alt und zerkratzt, die Englischbücher sind fehlerhaft und sogar das Essen ist unterste Klasse,“ sagt sie: „Die Lehrer bringen sich immer ihre eigene Soße zum Reis mit und der Schulleiter isst lieber woanders.“ Die Familien, die das Geld haben, schicken ihre Kinder auf Privatschulen. In Danielas Schule sind die Familien nicht so reich. Sie können sich noch nicht mal die Schuluniform leisten, deshalb kommen die Kinder ohne in die Schule. In Danielas Schule gibt es auch keine Pfadfindergruppe. Den Sing- und Tanzunterricht können nur die Schüler besuchen, dessen Eltern den Lehrer bezahlen können. Auch der Schulausflug jedes zweite Jahr ist nur für die Schüler, dessen Eltern das Geld dafür über haben. In der ersten, zweiten und dritten Klasse gibt es noch keine Tische; die Schüler sitzen auf Bänken oder auf dem Boden. Es wird noch auf Schiefertäfelchen geschrieben, außer in den Prüfungen. Da wird das Papier von der Schule gegeben. Ab der vierten Klasse wird in Heften geschrieben, die werden auch von der Schule gegeben. Die Stifte müssen die Kinder allerdings selbst mitbringen. „Deshalb kommt es auch oft vor, dass die Hälfte der Schüler keine Stifte haben“, sagt Daniela.

Die Klassen sind zwischen 35-47 Schülern groß. Manchmal muss Daniela auch die erste, zweite und dritte Klasse zusammen unterrichten. Um Anreize zu setzen schreibt die Schule auf jedes Zeugnis, welchen Platz man in der Klassenrangliste hat, zum Beispiel sechs von 43, das heißt man wäre sechstbester. „Bei den guten Schülern klappt das wunderbar, die sind richtig heiß darauf, sich zu verbessern. Bei den hinteren wirkt das demotivierend und ist wie ein Schlag ins Gesicht,“ sagt Daniela. 

Der Unterricht ist komplett anders als in Deutschland. Es gibt keine mündliche Note, es zählen nur die schriftlichen Ergebnisse. Hausaufgaben gibt es nicht, bis auf das Gelernte im Gedächtnis zu behalten. „Die Schüler lernen alles nur auswendig, ohne zu denken und ohne zu verstehen“, meint Daniela: „Die kennen zwar alle das Alphabet auswendig, aber wenn sie dann ein G anschreiben sollen, können sie das nicht“. Der Unterricht ist purer Frontalunterricht: Der Lehrer schreibt an die Tafel und die Schüler schreiben ab oder der Lehrer erzählt etwas und die Schüler schreiben auf. Stellt der Lehrer mal Fragen, sind das Wissensfragen, die überprüfen, ob die Schüler das Gelernte auch behalten haben „Es gibt keine offenen Fragen wie 'was meinst du?'. Es werden immer nur Fakten abgefragt. Fragen, wo die Kinder selbst denken müssen gibt es nicht, da könnten die Kinder auch gar nichts mit anfangen“, sagt Daniela. Selbstständig zu lernen, wird den Kindern nicht beigebracht. „Teilweise werden die Matheaufgaben mit Lösung angeschrieben. Das wird dann abgeschrieben und auswendig gelernt. Die Schüler wissen dann, dass zwei plus zwei gleich vier ist, aber können trotzdem nicht richtig rechnen“, erzählt Daniela.
„Manche Schüler können das dann, die anderen werden mitgeschleift oder schreiben ab. Es sitzt aber auch keiner da, der murrt, dass man gefälligst nicht abschreiben solle“, meint Daniela: „Ich habe das Gefühl, dass die in der ersten und zweiten Klasse merken, wer was drauf hat und wer nicht, dass die da bestimmen wer gut ist und wer schlecht ist.“ Auf die schlechteren wird keine Rücksicht genommen. Es gibt keine Extraeinheiten oder Extraförderungen. Daniela drückt es so aus: „Einmal 43. von 43 – immer 43. Rücksichtnahme bei der Klassengröße ist aber auch nur schwer möglich“.
Sitzenbleiben in der Grundschule ist trotzdem unmöglich. „Alle sollen die Grundschule schaffen. Falls jemand durch die Prüfungen fällt, kriegt er die Lösungen vorgegeben, muss sie abschreiben und hat somit bestanden,“ erzählt Daniela. Warum das so ist weiß sie auch nicht: „Mein Schulleiter hat mir gesagt, dass das vor fünf bis acht Jahren noch anders gewesen wäre, damals war der Druck auf die Schüler wohl auch noch ein bisschen größer und es sei besser gelaufen.“ So kann man natürlich auch Statistiken verfälschen. „Unter meinen Schülern sind ungefähr zwei Prozent der Schüler Legastheniker und Analphabeten. Rein theoretisch würden sie die Schule nicht schaffen, aber so fallen sie aus diesen Statistiken raus,“ sagt Daniela: „Die schlechten Kinder werden mitgeschleift und sitzen die Zeit ab.“ Auf der anschließenden High School ist es möglich sitzen zu bleiben. Das heißt, es wird dann erheblich schwerer für diejenigen, die vorher schon nichts verstanden haben.

Die Kinder werden in einem Gebäude unterrichtet, dass eigentlich nur eine große Halle ist. Die einzelnen Klassenräume werden durch Stellwände getrennt. Wenn dort sieben Klassen gleichzeitig Unterricht haben kann es ganz schön laut werden. „Man hört die anderen Klassen immer. Manchmal Unterrichte ich die Größeren und nebenan singen 60 Kinder lauthals oder rattern das Alphabet runter. Ist es um einen herum laut, wird auch die eigene Klasse laut, also muss ich auch umso lauter werden, damit ich noch gehört werde. Ich muss ständig gegen die Geräuschkulisse an brüllen!“ erzählt Daniela: „Bis dann irgendwann der Nachbarlehrer kommt und mit dem Stock auf den Tisch haut. Dann ist für zwei Minuten Ruhe, bevor es vorne losgeht“. Oft kämen sich die Schüler aus den verschiedenen Klassen auch gegenseitig besuchen und machen Unfug miteinander. Daniela meint: „Das ist ein schwieriges Umfeld zum Lernen!“
Disziplin ist allgemein ein Problem. „Die Kinder sind nicht bösartig. Die sind ja auch nett und grüßen einen, aber die haben einfach viel Energie. Die sind den ganzen Tag wie Flummis in Bewegung und gehen sprichwörtlich über Tische und Bänke“, meint Daniela. Die Antwort der Lehrer darauf ist Disziplinierung durch Schläge. Die Lehrer in Danielas Schule kommen alle mit Rohrstock oder Holzlineal in die Schule. Die Kinder werden nicht verprügelt, aber kriegen mal leicht einen auf den Oberschenkel oder werden an den Ohren gezogen. Falls sie härter bestraft werden, gibt es Schläge auf die Handflächen oder Fußflächen. Meistens werden die Jungs gehauen, die Mädchen seien vergleichsweise brav. Daniela denkt, das liege aber auch daran, dass die Jungs meistens rumrennen, kämpfen und sich wie Rabauken benehmen würden. Die Mädchen seien ruhiger und würden nur reden oder malen. „Da sie ruhig sind und weniger stören, werden sie auch nicht gehauen“, sagt Daniela: „Und den Lehrern geht es in erster Linie darum die Schüler ruhig zu halten. Das hat mir mein Schuldirektor auch am ersten Tag so gesagt.“

Daniela kann sich an ein härteres Beispiel erinnern: „Einmal hat ein Schüler einer Lehrerin Geld aus der Tasche gestohlen. Der wurde dann richtig verprügelt und hat danach auch geheult.“ Ansonsten heulen die Kinder nicht, würden zwar kurz zucken aber machen zehn Minuten später wieder den gleichen Blödsinn. Prügeln schaffe nur kurzfristig Disziplin. „Wenn die Kinder nicht gehorchen kriegen sie einen Schlag ab. Die kriegen aber schon seit dem Kindergarten Schläge ab und machen in der siebten Klasse immer noch Unfug,“ sagt Daniela: „Die machen das ja auch nicht aus Bosheit, sondern aus Unbedarftheit und Spieltrieb. Für die ist Schule gleich Spielzeit und Rumtob-Zeit. Die freuen sich auch nicht auf die Ferien, weil zuhause krasse Aufgaben auf die warten: Wasser holen, auf dem Feld oder auf der Arbeit mit anpacken und so weiter.“
Daniela kann die Lehrer aber auch verstehen: „ Die Lehrer wissen nicht, wie es anders geht und sind ganz einfach mit der Situation überfordert. Bei den Klassengrößen!“ Für Daniela sei es noch schwieriger, da sie erstens kein Kannada spricht, zweitens nicht schlägt und drittens ein Mädchen ist, weshalb sie von manchen älteren Jungs nicht richtig akzeptiert wird.
Die Schule hat das Recht die Kinder zu disziplinieren und viele Eltern geben die Kinder zur Beschäftigung zur Schule. Oft müssen selbst beide Elternteile arbeiten und könnten sich gar nicht um die Kinder kümmern. Vielen scheint es egal zu sein, wie die Kinder in der Schule abschneiden. Nur manche Elternteile kommen manchmal in die Schule und beschweren sich, bei den Lehrern. Viel Unterstützung von zuhause bekommen sie also nicht. Wie auch, wenn die Eltern teilweise selbst noch nicht mal richtig lesen und schreiben können.
„Es ist aber auch erschreckend wie schlecht die Englischlehrer Englisch können“, meint Daniela: „Die machen immer nur das Gleiche, machen nur das, was im Buch steht und bereiten keinen Unterricht vor. Die sitzen da und gucken den Schülern beim Abschreiben zu. Pädagogisch gesehen ist das nach unseren Maßstäben total schlecht! Die sind mehr Aufpasser oder Betreuer, als Lehrer.“


Daniela macht ihren Unterricht trotzdem so, wie sie es aus Deutschland kennt. „Mein Schulleiter hat mir und meiner Freiwilligenkollegin erlaubt, die Schüler in Kleingruppen zu unterteilen. Wir versuchen ein bisschen Sonderunterricht für die Schwächeren zu geben,“ erzählt sie: „Ansonsten versuchen wir Abwechslung in den Schulalltag zu bringen: basteln, singen, tanzen oder mal Theater spielen. Die Kinder sind da voll scharf drauf und die sind schon für kleine Dinge voll dankbar. Neulich haben wir aus Papier Tigermasken gebastelt und die sind dann den ganzen Tag damit rumgetollt.“ Ansonsten versucht sie Allgemeinwissen zu vermitteln, wie zum Beispiel wissen über andere Länder oder sie zeigt ihnen mal die Weltkarte. „Die sollen ja auch wissen, dass es nicht nur braune sondern auch weiße Menschen gibt und dass Japan geografisch nicht neben Deutschland liegt,“ sagt sie: „Wissenshungrig sind die schon!“



Ob das ganze überhaupt etwas bringt, wenn jedes Jahr ein anderer Freiwilliger kommt und sein eigenes Programm aufzieht? „Langristig gesehen weiß ich nicht. Das Leben von denen ändern tut es kaum. Aber all die Kinder haben ein hartes Los gezogen. Diesen Kindern punktuell mal eine Freude zu machen, wo sie sonst nicht viel zu lachen haben, ist es schon wert. Oder einfach auch den schlechteren, die sonst nie gelobt werden, mal ein positives Feedback geben,“ meint Daniela. Es sind aber auch Folgen der Freiwilligenarbeit in Danielas Schule zu sehen: Die Schüler der vierten Klasse, die durchgehend Freiwillige hatten, können von der ganzen Schule am besten Englisch sprechen, sogar besser als die Siebtklässler,“ erzählt Daniela: „Dabei kommt es natürlich auch immer auf das Engagement der Freiwilligen an, wie sehr die sich einbringen. Unterrichten in Großgruppen wie 30 bis 40 Leute bringt meiner Meinung nach gar nichts.“


Viele Unterschiede, kaum Gemeinsamkeiten. „Ich hätte nie gedacht, dass eine Schule so laufen kann“, sagt Daniela: „Aber nichtsdestotrotz sind manche Schüler richtig gut. Die Guten kriegen das alleine hin, die fleißigen. Aber sonst, die anderen, die Rabauken, um die sich nicht gekümmert wird bleiben hängen und werden mitgeschleift. Die stehen am Ende mit einem Grundschulabschluss da, ohne teilweise richtig rechnen oder schreiben zu können.“ Das ist ein Resultat aus einem Bildungssystem, das in Privatschulen und staatliche Schulen unterteilt ist: Wer das Geld hat, kann sich den Zugang zu Bildung und somit Chancen auf einen guten zukünftigen Job erkaufen. Der Rest ist in einem Teufelskreis aus Armut und Unwissenheit gefangen, aus dem es hart ist zu entkommen. Man muss dabei natürlich bedenken, dass der ganze Unterrichtsstil in Indien ein anderer ist, als in Deutschland und dass es auch bei uns bei uns einmal so harten Frontalunterricht gegeben hat. „Natürlich kann ich nur von meinen Erfahrungen in meiner Schule sprechen und von dem, was ich von anderen Freiwilligenlehrern gehört habe,“ gibt Daniela zu: „Aber warum sollte es im Rest von Indien anders sein?“

1 Kommentar:

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