Sonntag, 20. Mai 2012

Die Leiden des jungen Nikils


Behinderte gibt es überall auf der Welt, in Deutschland und auch in Indien. Es gibt nur verschiedene Wege mit ihnen umzugehen. Man kann sie aussetzen, verstoßen oder sich um sie kümmern. In meinem jetzigen Projekt kümmere ich mich um behinderte Menschen. Ich habe zuvor noch nie mit behinderten Menschen gearbeitet, doch ich bin mir sicher, dass das ganze in Deutschland anders abläuft.
Seit Anfang März bin ich in der Spandana Special School in der Nähe von Udupi untergebracht. Das ist ein Rehabilitierungszentrum für behinderte und psychisch kranke Männer. Es sind immer um die 30 Männer in Behandlung, mit den unterschiedlichsten Behinderungen. Insgesamt haben schon 67 Männer die Einrichtung besucht, die sind teilweise wieder zuhause und kommen bloß manchmal wieder. Geleitet wird die Einrichtung von Janardhan und Umesh, einem ausgebildeten Behindertenpädagogen und einem Hochschulleiter. Montags bis Samstags kommen dazu zwei Lehrerinnen und betreuen die „Kinder“, wie die Behandelten hier genannt werden. 
Janardhan, ganz links mit Studenten aus Manipal, die ein Essen gespendet haben und den Spandana Kindern
Beim Wischen der großen Halle

Um 6.30 Uhr beginnt jeder Tag in der Spandana Schule. Die „Kinder“ werden aufgeweckt und müssen sich die Zähne putzen. Danach wird geduscht. Es gibt eine gewisse Hierarchie unter den „Kindern“: Manche sind eher aktiv, manche eher passiv; manche sind im Stande mehr zu tun, andere sind so sehr beeinträchtigt, dass sie fast keine Aufgabe erledigen können. Diejenigen, die geistig fitter sind, stehen in der Hierarchie weiter oben. Sie helfen den Betreuern dabei, dass alle ihre Aufgaben erledigen und kümmern sich selbst um die schwierigeren Aufgaben. Ganz oben steht Simon. Er ist sozusagen der verlängerte Arm der Betreuer und schreckt nicht vor Gewalt zurück. Wer nicht gehorcht, wird geschlagen. Nicht dass die Lehrer und Janardhan Simon nicht unter Kontrolle hätten. Doch durch seinen Status unter den „Kindern“ hat er gewisse Freiheiten wie eine extra große Tasse Buttermilch zum Mittagessen oder hier und da mal ein Schlag mehr als nötig. Er ist es aber auch, der als erstes gerufen wird, wenn jemandem bockt, damit er wieder für Ordnung sorgt.
Nikil


Nikil steht weiter unten in der Hierarchie. Er ist einer der jüngsten und erst sechs Monate in der Spandana Schule. Manchmal putzt er sich nicht lange genug die Zähne oder versucht sich vor dem Putzen zu drücken. Dann wird er von einer Betreuerin oder von Simon zurechtgewiesen. Falls das nichts hilft, bekommt er ein, zwei Schläge. Sein Respekt vor Simon ist deshalb sehr groß. Schläge in der Erziehung sind in Indien häufig anzutreffen, nicht nur in der Spandana Schule. Die „Kinder“ werden zwar nicht verprügelt, aber es reicht dafür aus, dass sie aus Angst vor weiteren Schlägen die Aufgaben machen, die ihnen aufgetragen werden. Dieses Prinzip stößt aber auch an seine Grenzen: Wenn jemand zu sehr geschlagen wurde, protestiert er, verweigert jegliche Handlung oder setzt zu Gegenschlägen an. Wenn man die Gewalt auf der einen Seite sieht, muss man auf der anderen Seite aber auch die Überforderung der Betreuerinnen sehen: zehn bis fünfzehn „Kinder“ kommen auf eine Betreuerin. In Frankreich seien es maximal vier bis sechs pro Betreuer, sagt Franck, der in Frankreich als Behindertenpädagoge arbeitet. Er war im März einen Monat lang als Freiwilliger in der Spandana Schule tätig. Er sagt auch, dass Gewalt in der Behandlung in Frankreich nicht akzeptabel sei. Er sehe aber selbst, dass die Menschen es hier nicht anders kennen und die Umstände ganz andere seien als in Frankreich.
Die tägliche Routine ist für die Kinder wichtig. Nikil hatte gerade am Anfang Schwierigkeiten und wollte manchmal nach Hause laufen. Oft fragt er, ob seine Mutter oder sein Onkel kommen. Die anderen „Kinder“ kriegen ab und zu Besuch von ihren Eltern oder Geschwistern. Doch Nikils Mutter war bisher noch kein mal da. Nur sein Onkel Varsu kommt manchmal vorbei und bringt ihm Limonade mit. Mittlerweile scheint er sich an den Spandana-Alltag gewöhnt zu haben.
Um 8.00 wird gefrühstückt. Der Herr der Küche ist der taubstumme Sudhir. Jeden Tag kocht er auf offener Flamme für über 35 Leute. Er ist im vollen Besitz seiner geistigen Fähigkeiten, doch auch für ihn wäre es schwer in einem anderen Privatunternehmen einen Job zu finden. Nach dem Frühstück kommen die Lehrer. Unter deren Aufsicht wird der Boden gewischt und die Wäsche gemacht.
Um 9 Uhr bekommen die Kinder ihre Medizin. Da Nikil neben seiner geistigen Behinderung auch Epileptiker ist, muss er jeden Tag Tabletten schlucken. Die machen ihn sehr müde und träge. Von der darauffolgenden Yogastunde hat er nicht viel, weil er gegen den Schlaf kämpfen muss. Die Yogastunde ist eine Physiotherapie für die Kinder: Verschiedene Positionen werden eingenommen, Muskeln werden angespannt und Bänder gedehnt. Das ist sehr wichtig, damit die Kinder einigermaßen fit bleiben. Die meisten können die Übungen alleine, manchen muss ich immer helfen.
Yoga Stunde

Anschließend rollen die „Kinder“ die Yogamatten ein und bauen die Tische für den Unterricht auf. Unterricht ist das es in entferntester Form, eher Beschäftigung. Das ist aber auch kein Wunder: Wenn man mit drei Leuten auf 30 Menschen aufpassen muss, die alle unterschiedliche Behinderungen haben, kann man die nicht neben bei individuell unterrichten. An meinem Gruppentisch zeichne oder male ich mit den Kindern. Individuelle Fortschritte kann ich erreichen, wenn ich mich um maximal drei Kinder gleichzeitig kümmere. Meistens sitzen aber sechs oder sieben Kinder um mich herum, die beschäftigt werden wollen. Dem einen gebe ich Flächen zum ausmalen, einer schreibt kurze Wörter ab und ein anderer kritzelt mit zittriger Hand wilde Linien auf das Papier, gerade in der Lage den Stift zu halten. Wenn ich nicht aufpasse, stibitzt sich einer den Anspitzer und macht die Buntstifte um die Hälfte kürzer. Wenn Nikil nicht gerade schläft, malt er seine geliebten von mir vorgezeichneten Elefanten aus. 
Malunterricht von Morten

Um Punkt 13 Uhr jeden Tag gibt es Mittagessen. In Indien ist es üblich zu besonderen Feierlichkeiten etwas an die ärmeren in der Gesellschaft zu spenden. So kommt es häufig vor, dass Menschen ein komplettes Mittagessen spendieren, weil sie Geburtstag, Verlobung oder ein besonderes Gebet zuhause haben. Neulich wurden die gesamten Spandana Kinder zu einer Hauseröffnung im benachbarten Brahmavara eingeladen. Die gesamte Einrichtung ist von Spenden abhängig. Ohne großzügige Sponsoren gäbe es Spandana nicht. Ob Schrank, Ventilator oder Schulbank, alles ist von irgendwem einmal gestiftet worden. Selbst das Gebäude, in dem die Spandana Schule gerade untergebracht ist, gehört einem niederländischen Sponsor.
„Wir sind von den Spenden abhängig, weil wir vom Staat keine Zuschüsse bekommen,“ sagt Janardhan. Der Staat unterstützt nur behinderte Kinder und Jugendliche. Ab dem 18. Lebensjahr fällt diese Unterstützung weg. „Ich kann die Sorgen der Eltern von behinderten Kindern verstehen,“ erzählt Janardhan: „Der Sohn von meiner Schwester war auch behindert. Es ist schwer sich neben der Arbeit genügend um ein behindertes Kind zu kümmern. Manche Kinder brauchen quasi durchgehend Betreuung“ Die Familien, die ihre Kinder in die Spandana Schule geben kommen alle aus der Arbeiterklasse oder unteren Mittelklasse. Reichere Familien schicken ihre behinderten Kinder in teure Privateinrichtungen. Einrichtungen wie Spandana gibt es nicht viele in Indien. Auf den lokalen Treffen der Behinderteneinrichtungen sind sie die einzige Einrichtung für Erwachsene. Die „Kinder“ kommen teilweise aus 250 km entfernten Orten.
„Der Umgang mit Behinderten in Indien ist ganz unterschiedlich. Es kommt ganz darauf an, wie entwickelt eine Region ist,“ sagt Janardhan. Er kennt Geschichten, wo ein Behinderter an einen Baum gefesselt gelebt hat. Oft werden sie auch in Zimmer eingesperrt, irgendwo fest gekettet oder auf der Straße ausgesetzt, wo sie dann betteln oder verhungern.
Janardhan, ausgebildeter Behindertenbetreuer und Leiter der Spandana Schule

Um 15.30 ist der Nachmittagsunterricht vorbei. Jetzt ist noch eine halbe Stunde Hofgang, Spiele im Freien und das tägliche Gebet angesagt. Danach haben die Kinder Freizeit. Ihnen geht es gut in der Spandana Schule, auch Nikil. Trotz der Gewalt, die ich hier teilweise täglich miterlebe, gibt es die vielen warmen Momente in denen ich merke, wie nahe sich die Kinder und die Lehrerinnen stehen und wie viel Freude die Kinder untereinander, aber auch mit den Heimleitern haben. Wie gerne sich Betreuer und „Kinder“ haben. Der junge Nikil ist mit seinen Leiden hier gut aufgehoben.
Die Schule bekommt einen Sack Reis geschenkt


2 Kommentare:

  1. Gute Sache!
    Du machst das Morten :)

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  2. Hi Morten, ich heiße Lena Meier und wir haben früher öfter mal mit unseren Brüdern gespielt. Mein Papa heißt Steppel und wir kommen aus Hävern und unsere Eltern sindgut befreundet. Mein Papa und ich haben Uwe auf einem Weihnachtsmarkt getroffen und er hat uns von deinem Blog erzählt. Seitdem gucke ich öfter mal, was du so postest. Ich mache nächstes Jahr, also 2013, mein Abi und will danach auch einen Freiwilligendienst machen, vielleicht sogar mit deiner Organisation. Es wär echt schön, mal jemandem ganz viele Fragen stellen zu können und wenn du Lust hast kannst du dich ja mal melden. Liebe Grüße, Lena
    Lena_Charlotte_Meier@web.de

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