Dienstag, 20. September 2011

Leben auf einer einsamen Insel


Rund um Kundapur gibt es viele Flüsse, Mangrovenbäume und Inseln. Die meisten Inseln sind durch Brücken mit dem Festland verbunden. Allerdings gab es vor ca. 200 Jahren eine Gruppe von Menschen, die beschloss einen neuen Anfang fern ab vom Festland zu wagen. Auf einem ca. 50 Hektar großen Eiland ließen sich ca. 250 Christen und Hindus nieder und nannten es Kannada Kudru. Sie machten den Boden urbar, legten Felder an und brachten ihr Vieh mit. Sie bauten Häuser, Brunnen, einen Tempel für die Hindus und eine Kirche für die Christen. Sie fassten Fuß, zeugten Nachfahren und zogen sie auf der Insel groß. Sie errichteten einen Kindergarten und eine eigene Schule. Alles, was sie benötigten, konnten sie auf der Insel herstellen. Seltenere Güter konnten mit Booten vom Festland geholt werden. Die Menschen waren abhängig von Wetter und Tide, lebten ein glückliches Leben und fühlten sich frei und unabhängig.

Die Zeiten zogen an der Insel vorbei. Neue Maschinen überholten die Feldarbeit auf dem Festland und trieben den Ackerbau voran. Neue Arbeitsplätze erschlossen sich in den großen Städten und die Krankenhäuser feierten viele medizinische Fortschritte. Die Insel unterlag dieser rasenden Geschwindigkeit. Die Feldarbeit war hier noch genauso hart, die Bauern vom Festland waren effizienter. Die jungen Menschen suchten Arbeit und sie zog es in die Städte rings um rum oder gar in die Metropolen wie Mumbai oder Bangalore. Manche gründeten ihre Familien anderswo und zogen davon. Es gab mehr und mehr alte Menschen und schließlich wurde die eigene Schule geschlossen und die Kinder gingen von nun an auswärts zur Schule. Mit dem Wissen, dass sie dort erlangen sind sie gewappnet für Berufe, die es auf der Insel womöglich niemals geben wird. Sie werden ebenfalls das Weite suchen. Mit jedem Jahrzehnt schrumpfte die Inselbevölkerung und es sah alsbald so aus, als ginge sie unter. 
Die "Marshall Villa", in der Narvin und Francis wohnen

Doch einige Menschen kamen zurück. Nach Jahrzehnten harter Arbeit suchten sie ein ruhiges Lebensende. Francis Rebello ist so einer. Er arbeitete über 30 Jahre als Mechaniker in Saudi Arabien und kehrte nach seiner Rente auf Kannada Kudru zurück. „Hier fühle ich mich wohl und geborgen. Ich habe mein Haus und meinen Hof und ein sehr schönes leben hier“, sagt er: „Hier bin ich aufgewachsen und nachdem ich mein halbes Leben gearbeitet und unter fremden Menschen verbracht hatte, bin ich in meine Heimat zurückgekehrt“.
Die Familie Rebello ist seit eh und je sehr christlich.

Bis vor kurzer Zeit lebte er hier zusammen mit seiner Frau und teilweise mit seinem zweiten Sohn Narvin. Narvin arbeitete immer einigen Monate in Mumbai und verdiente schnell gutes Geld als Trainer für Callcentermitarbeiter. Wenn er erst mal genug hatte kehrte er heim nach Kannada Kudru. Sein Bruder hatte in Mumbai Fuß gefasst und eine Kleinfamilie aufgebaut.
In der Monsunzeit kommt man nur mit einer kleinen Fähre auf die Insel.

Dann erschütterte ein Unglück die Familie Rebello. Francis Rebello und seine Frau verloren ihren ersten Sohn bei einem Unfall. Er hinterließ eine Frau und zwei Kinder. Narvin hatte keinen Bruder mehr. Er kehrte zurück nach Kannada Kudru, um seinem Vater beizustehen und ihm bei der Feldarbeit zu helfen. Seine Mutter ging nach Mumbai um der Frau seines Bruders zu helfen und für die Kinder zu sorgen. Seitdem lebt Narvin wieder auf Kannada Kudru. Er hat Mumbai satt und genug vom Großstadtleben: „In Mumbai war ich oft traurig. Ich habe dort in einer Woche mehr verdient, als meine Eltern in einem Monat. Ich hab das Geld auch wieder ausgegeben, doch ich wurde nicht glücklich damit. Als mein Bruder starb habe ich den Entschluss gefasst auf Kannada Kudru zu bleiben und den Hof von meinem Vater zu übernehmen.“
Tellerwäsche mit Regenwasser
Narvins Zimmer. Spartanisch mit Bett, Fernseher Laptop und Gitarre.

Narvin ist 37 Jahre alt, hat aber – genau wie sein Vater – die kindliche Lebensfreude noch nicht verloren. Wir treffen ihn gegen Abend auf seinem Hof an und wollen die Nacht in der „Marshall Villa“ verbringen. Was er am meisten an Kannada Kudru schätzt? „Klar, das Leben hier ist einsam und wird schnell langweilig, wenn man jung ist. Aber die Ruhe, die du hier hast, egal, ob du dich unter eine Palme setzt oder im Boot unterwegs bist, findest du nirgendwo sonst,“ schwärmt er. „In Mumbai hab ich gut verdient, aber ich war unglücklich. Hier füttere ich meine Kühe und Hühner, gucke nach dem Reis und ernte meine Kokosnüsse. Ich mache meine Arbeit und am Ende des Tages kann ich zufrieden angucken, was ich geschafft habe.“ Es ist dunkel geworden. Wir sitzen unter seiner Veranda und Narvin erzählt uns, was man alles auf Kannada Kudru anbauen kann: Bananen, Mangis, Kokosnüsse, Musumbi (eine Art gelb-grüne indische Orange), Reis, usw. Er schmeißt den Hennen mit ihren Küken Reis hin. 
Maria hat ein Küken

Narvin beim Kochen und die andern drei gucken hungrig
traditionelle Feuerstelle in einer Küche, auf der gekocht wird.

Wir sind hungrig geworden und fangen an zu kochen. Eigentlich kocht nur Narvin. Die neugierige Maria versucht sich im Fisch zubereiten und der Rest guckt den beiden über die Schultern. Die mauzenden Katzen werden mit den Fischresten ruhiggestellt und auch Julius Caesar, der Hund im Haus bekommt zu fressen. Er sieht ein bisschen aus wie ein Husky und wird von den Nachbarn „Wolfdog“ genannt. Caesar ist ein sehr schöner Hund und im Gegensatz zu den meisten Inselbewohnern kann er schwimmen. 
Ein wirklich prächtiger Hund!

Nach dem Essen packt Narvin die Gitarre aus. Bei einigen Bier und Zigarettenrauch lauschen wir seinen begnadeten Händen und seiner krächzenden Stimme. Wir wünschen uns Songs und wer will summt oder singt zu Bob Marley, Eric Clapton oder Bob Dylan mit. Das Gitarre spielen ist Narvins Leidenschaft. Darin geht er völlig auf und kann seine Gefühle verarbeiten. Und wenn man Narvin „Tears in Heaven“ spielen hört, ist das was anderes, als wenn DSDS Kandidaten die Geschichte über die verstorbene Urgroßmutter erzählen. Er hat selbst über 50 christliche Lieder geschrieben und tritt manchmal in Hotels in Goa auf. Erst kurz nach Mitternacht wollen wir schlafen gehen.
Zweiter Jack Johnson

Am nächsten Morgen gibt es Chai (Schwarztee mit Milch und Zucker) und Frühstück. Danach fahren wir mit seinem Boot raus auf den Fluss und machen Taucherrollen vom Bootsrand. Das Wasser ist angenehm und mitten im Fluss gibt es Sandbänke auf denen wir stehen können. Es ist niedrige Tide, doch die Flut kommt gerade wieder und wir kehren zurück zu Narvins Privatanleger, an Fischerbooten, Muschelreusen und Mangrovenwäldern vorbei. Zur Stärkung danach gibt es frische Kokosnüsse und Kokosmilch. 
Alles alle!
Nach dem Schwimmen erstmal Relaxen!

Narvin hat rund 2000 auf seinem Hof gelagert, die er später auf dem Festland verkauft. Kokosnüsse, Reis, Milch und Eier sind seine Haupteinnahmen. Wir müssen zurück nach Kundapur. Ich streichle Caesar noch mal, dann verabschieden wir uns. Per Fähre geht es zurück zum Festland. Der Bootsführer, der das Boot mit einem Stab anstößt, kutschiert uns trocken über den Fluss. Angespannt sind wir trotzdem, denn es schaukelt ganz schön und wir haben Kameras, Handys uns Ausrüstung bei uns. Auf der anderen Seite angekommen, sehen wir den Postboten. Auch er muss natürlich extra eine Fähre nehmen. Die Insel ist zwar abgelegen, aber nicht abgeschottet von der Außenwelt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen