Donnerstag, 15. Dezember 2011

Tent School - Die Kinder, um die sich niemand kümmert



Jeder FSL-Freiwillige sitzt in Indien in seinem Projekt und versucht es einzuschätzen: Ob das Projekt sinnvoll ist, ob es überhaupt etwas bringt, ob es überhaupt einen Unterschied macht, dass man da ist oder nicht. Auch ich frage mich ständig. Eines Abends beschlossen Martin, Maria und ich den Eco Tourism Alltag ruhen zu lassen und für einen Tag mit den anderen Freiwilligen in die Tentschools, Zeltschulen, zu gehen. Mal gucken, was die anderen so machen.

Im Hintergrund die "Häuser" der Kinder
Nach drei Mal umsteigen und einer Stunde Busfahrt kommen wir an. Mitten im nirgendwo liegen die Gebäude einer Straßenbaufirma. Wir passieren die Schranke und holen uns Matten und einen Eimer aus dem Pförtnerhaus. Merrit zeigt mir den Wasserhahn, wo ich den Eimer füllen kann. Sauber ist das Wasser sicher nicht. Es dient dazu, dass sich die Kinder waschen und die Zähne putzen können. Ich bringe den gefüllten Eimer zur Terasse eines Wohnhauses, die ein wenig Schatten in der sengenden Hitze bietet. Charlene breitet die Matten aus und ich gehe mit Larissa und Merrit die Kinder holen. 200 Meter weiter kommen wir zu provisorisch zusammen geflickten Wellblechkästen. Man kann sich kaum vorstellen, wie das tägliche Leben darin aussehen soll. Die meisten Eltern sind bei der Arbeit. Sie sind eine Art Tagelöhner bei der Straßenbaufirma. 
Das Wasser aus der Pfütze ist nicht viel dreckiger, als das aus dem Wasserhahn

Das Gebäude im Hintergrund bietet etwas Schatten: Platz für einen Freiluftklassenraum

Mit etlichen Kindern bepackt geht es zurück zur Terasse. Merrit, Larissa und Claudia kommen jeden Tag hierher. Zusammen mit Charlene, einer FSL Mitarbeiterin, kümmern sie sich um die Kinder, um die sich sonst niemand kümmert. Es sind Kinder im Alter von eins bis fünfzehn. Sie sind arm und gehen nicht zur Schule. Öffentliche Grund- und Mittelschulen sind in Indien zwar gebührenfrei, aber die Eltern sind meist so arm, dass sie Schuluniform, Hefte und Stifte meist nicht bezahlen können. Zudem ziehen manche umher, je nach dem wo es Arbeit gibt und haben keinen festen Wohnsitz. Die Kinder kommen in dreckigen und kaputten Klamotten. Fast alle haben Läuse in den Haaren. 24 Augen, die mich noch nie gesehen haben und mich mustern. Ein kleiner Junge mit zotteligen Haaren hält sich an Larissas Hand fest. Ein Mädchen, vielleicht neun Jahre alt, trägt ihren einjährigen Bruder auf dem Arm. Ein anderes Mädchen mustert mich skeptisch. Wir setzen uns in den Kreis. Martin, Maria und ich werden vorgestellt und wir beginnen mit ein paar Spielen.


 
Merrit und Charlene kümmern sich um das kranke Mädchen



Merrit und Claudia hatten am Vortag ein Fieberthermometer gekauft. „Oft ist es so, dass wir die Kinder abholen und manche den Anschein machen krank zu sein. Manchmal tun sie nur so und wollen schwänzen. Wir können überhaupt nicht einschätzen, ob sie wirklich krank sind oder nicht“, erzählt Merrit. Auch diesmal ist ein kleines Mädchen dabei, das einen ziemlich schlappen Eindruck macht und eine heiße Stirn hat. „Es kann auch sein, dass die Kinder ernsthaft krank sind und Medizin bräuchten“, sagt Merrit und testet das Mädchen. Das Fieberthermometer zeigt 40,5 Grad an. Damit ist nicht zu spaßen. Charlene und Merrit bringen die Kleine per Rikscha ins Krankenhaus. Larissa und Claudia beginnen derweil die Mal- und Bastelstunde. 

Normalerweise bringen sie den Kindern auch rechnen, schreiben und lesen bei, aber zurzeit sind Ferien. Die Kinder können malen, ausschneiden und aufkleben. Stolz zeigen sie uns ihre Kritzeleien und schneiden Papierquadrate wie am Fließband aus. Das Eis zwischen ihnen und uns neuen ist mittlerweile geschmolzen. Ich versuch mich um Santosh zu kümmern. Er ist der kleinste, noch viel zu klein um mit Schere und Kleber etwas anzufangen. Obwohl Santosh eigentlich der Glückliche heißt, schreit er irgendwann. Ich kann nichts machen, aber seine große Schwester kommt und nimmt ihn auf. „Es ist schwer den Kindern etwas beizubringen. Die meisten sind eigentlich noch viel zu jung, um Rechnen und Schreiben zu lernen. Dann liegt meistens noch ein Kleinkind daneben und schreit. Die größeren können und wollen auch zum Teil was lernen, aber es ist schwer sich um alle gleichzeitig zu kümmern,“ sagt Claudia: „Viel Unterricht klappt zwar nicht unbedingt, wenn man das mit Unterricht vergleicht, wie wir ihn kennen. Es ist mehr ein spielend lernen.“
Claudia schaut sich ein gemaltes Bild an

Es ist anstrengend zankende Kinder auseinander zu bringen und Spielregeln drei Mal zu erklären. Alles so einfach es geht, denn die meisten Kinder können kein oder nur sehr wenig Englisch und teilweise noch nicht mal Kannada. Aber man hilft sich mit Händen und Füßen weiter und das Kind, das Englisch kann erklärt es den anderen. „Einmal haben wir die Kinder geduscht, sie mal richtig gewaschen und Lausshampoo benutzt, gegen die Läuse. Man konnte die Läuse richtig springen sehen. Danach mussten auch wir erst mal unsere Haare kontrollieren und Lausshampoo benutzen“, sagt Merrit: „Nach einem Tag Tentschool ist man meistens ziemlich fertig.“ Den Freiwilligen macht ihre Arbeit trotzdem Spaß. „Es ist zwar nicht immer einfach und es nimmt einen auch mit, wenn man sieht wie wenig die Kinder eigentlich haben,“ meint Claudia: „Aber es ist schön, dass man sehen kann, dass die Kinder Spaß haben. Hier können sie richtig Kind sein.“ Viele von den Kindern müssen zu Hause kräftig mit anpacken. Die große Schwester von Santosh scheint sich mehr um den kleinen Bruder zu kümmern als ihre Mutter. Die Kinder werden früh mit der Realität konfrontiert. Viele scheinen ihrem wahren Alter schon weit voraus. „Trotzdem freuen sie sich jedesmal, wenn wir kommen. Wir sind froh, wenn wir ihnen irgendwie helfen können,“ meint Merrit. 

Und sie hat recht. Am Ende des Tages winken sie mir zu und verabschieden mich herzlich. 24 Augen strahlen mir entgegen. Ich fühle mich fast schlecht, weil ich nicht wieder kommen kann. Gerne würde ich das tun und vielleicht werde ich das bei Zeiten auch tun.

Hier noch mehr Bilder aus einer anderen Tentschool nahe Kundapur:

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