Vielen indischen Kindern geht es dreckig. Eine Freiwillige berichtet davon.
Jedes fünfte Kind auf der Welt lebt in Indien. Die Hälfte von diesen 350 Millionen Kindern ist unterernährt. Jedes fünfte Kind in Indien geht nicht zur Schule und jedes zehnte Kind muss arbeiten. Täglich sterben 3000 Kinder an den Folgen von Unterernährung. Im Land mit der höchsten Kindersterblichkeitsrate auf der Welt müssen viele Kinder bitterste Armut ertragen. Meret (20) aus Deutschland arbeitet in einer Zeltschule und berichtet davon.
An vielen Plätzen in ganz Indien raffen sich umherziehende Familien in Slum-ähnlichen Siedlungen zusammen. Diese Familien sind bitterarm. Sie leben in Zelten und tragen ihr ganzes Hab und Gut mit sich herum. Die Kinder dieser Familien besuchen meist nicht die Schule, deshalb hat FSL India(Field Services and Intercultural Learning) an sechs Plätzen in der Gegend von Kundapur Zeltschulen eröffnet. Dort versuchen Freiwillige mit FSL Mitarbeitern den Kindern das beizubringen, was sie in der Schule versäumen. Meret ist weltwärts-Freiwillige und eine dieser Zeltschullehrerinnen.
Wer einmal gesehen hat, wie die Familien in den Zeltsiedlungen hausen, vergisst das nicht: Auf zwei mal zwei Metern leben fünf Kinder und zwei Erwachsene zusammen. Die Kinder tragen zerrissene Kleidung, haben Läuse auf dem Kopf und Wunden an den Füßen. Oft läuft ihnen auch die Nase, weil sie jetzt in den Wintermonaten nicht warm genug schlafen. Die Kinder, die teilweise auf Baugelände wohnen ziehen sich ständig Wunden zu. „Es muss schon was ziemlich schlimmes sein, damit die Eltern mit den Kindern zum Arzt gehen“, sagt Meret: „Die Eltern haben wohl auch nicht die Möglichkeit, nicht das Geld, nicht die Zeit und nicht den Kopf dafür, die sind ja ständig arbeiten. Da muss man halt Abstriche machen“. Deswegen haben Merit und die anderen ZeltschullehrerInnen Thermometer gekauft. „Viele kommen morgens mit Fieber zu uns. Wir würden ansonsten gar nicht wissen, wie ernst die Lage ist“, erzählt sie.
Die Hygienesituation in den Zeltsiedlungen ist kritisch. In der einen Siedlung wird zwar jeden Tag sauberes Wasser geliefert. „Das Wasser zum waschen kommt in schwarze Tonnen, die aber dreckig sind und das Wasser grünlich färben. Das Trinkwasser ist sauberer. Allerdings auch nicht so sauber, dass ich das trinken könnte“, meint Meret: „Ich weiß nicht, ob das Wasser ausreicht, dass sich jeder einmal am Tag duschen kann“. In anderen Zeltschulen wird das Wasser aus dem öffentlichen Brunnen im nächsten Dorf geholt, oder sogar aus einem kleinen Fluss, in dem sich in der Trockenzeit die Seife staut. „Wenn du für Wasser weit laufen musst, überlegst du dir zweimal, ob du dich duschst oder dich wäschst. Manche Mütter scheuen sich nicht Wasser zu holen, andere haben keine Lust dazu“, sagt Meret: „Deshalb kümmern wir uns um die Hygiene mindestens genauso viel, wie um das schulische lernen. Wir putzen jeden Tag mit den Kindern die Zähne und schneiden Finger- und Fußnägel. Wenn genug Wasser da ist, waschen wir Hände, Arme und Gesicht. In einer Zeltschule können wir die Kinder sogar einmal pro Woche duschen“. Einmal musste Meret ein Kleinkind waschen, dass mit zum Unterricht gebracht wurde, weil es so sehr nach Urin gestunken hat. Die Kleidung der Kinder wird meist nicht richtig gewaschen, sodass viele Kinder Hautkrankheiten haben.
Die Kinder aus den Zeltsiedlungen gehen aus verschiedenen Gründen nicht zur Schule. Die einen kommen aus einem anderen Bundesstaat und können deshalb kein Kannada sprechen. Die anderen sind Kinder von Fischern, die nur zeitweise arbeiten und keinen festen Wohnsitz haben. „Die Familien wissen nie genau, wie lange sie noch an einem Ort bleiben“, sagt Meret. Offiziell besteht in Indien Schulpflicht. Das heißt, dass staatliche Grund- und Mittelschulen kostenfrei sind und oft meistens sogar Schuluniform und Schulbücher kostenlos zur Verfügung stellen. Nur kleinere Kosten für zum Beispiel Stifte und Hefte müssen selbst gedeckt werden. Jedoch wird die Schulpflicht nicht kontrolliert und in jedem zehnten Fall nicht eingehalten. Jedes zehnte Kind in Indien kann die Schule deshalb nicht besuchen, weil es arbeiten gehen muss. Es ist ein Teufelskreislauf: Die Kinder der Armen müssen arbeiten und können deshalb die Schule nicht besuchen. Später sind sie ungebildet, bekommen keinen vernünftigen Job und bleiben arm. Zu den häufigsten Kinderarbeiten von Merets Schülern gehören auf dem Fischmarkt helfen, Haushaltsarbeiten in anderen Familien machen, bei Großveranstaltungen in der Küche arbeiten oder Straßenarbeiten. „Wenn keine Arbeit für die Kinder da ist, werden sie zum Betteln geschickt“, sagt Meret: „Oder sie müssen auf ihre kleinen Geschwister aufpassen, dann können sie auch nicht zur Schule gehen“. 1,50€ verdient ein Kind beim Betteln pro Tag. Zum Vergleich: In Indien leben 500 Millionen Menschen von unter 99ct pro Tag und somit unterhalb der internationalen Armutsgrenze. „Einmal haben wir zwei Kinder gefragt, warum sie sich von dem erbettelten Geld kein Mittagessen kaufen“, erzählt Meret: „Dann bekommen wir Schläge, antworteten sie.“ Ob sich da schon mal ein Kind gegen aufgelehnt hat? „Weiß ich nicht“, meint Meret: „Aber die Kinder zu schlagen, ist in Indien normal und in diesen Schichten erst recht. Die Kinder könnten von zuhause weglaufen, aber das macht ihre Lage nur schlimmer“.
Die meisten von den Kindern aus den Zelten sind schon mal zur Schule gegangen. „Die meisten Eltern sagen auch, dass die Kinder später wieder zur Schule müssen und sind froh, wenn wir kommen“,sagt Meret: „Aber wenn man bedenkt, dass die Größeren ständig auf die Kleinen aufpassen müssen und die Familie weiter umherzieht. Wer weiß wie es wirklich wird!“ An Weihnachten sind viele Familien für ein paar Tage zurück in ihre Heimatdörfer gereist. Anstatt der einen Woche Weihnachtsferien, waren die meisten Kinder aber drei oder vier Wochen nicht da. „Das zeigt, dass die Eltern kein sehr großes Interesse daran haben, dass die Kinder regelmäßig zur Schule gehen“, meint Meret.
Am Alkohol haben manche Eltern sehr wohl Interesse. „Alkohol ist in jeder Zeltschule ein Problem. Das ist aber von Familie zu Familie unterschiedlich“, erzählt Meret: „In einer Zeltschule gibt es zwei Mädchen, die ihrer alleinerziehenden Mutter jeden Tag eine Flasche Alkohol vom Betteln mitbringen. Was die Kinder beim Betteln erwirtschaften, wird größtenteils wieder versoffen. Hinterher haben die Eltern dann kein Geld, um den Kindern Medizin oder Schulhefte zu kaufen“. Einmal haben Meret und eine andere Lehrerin gesehen, wie ein vielleicht zweijähriges Mädchen eine leere Alkoholflasche in der Hand hielt. Sie haben die Kleine gefragt, was sie da in den Händen halte. Das Mädchen meinte, das wäre ihre Puppe.
Im September gab es einen Zwischenfall mit einem Betrunkenen in der Zeltschule. Meret erinnert sich: „Der Onkel von einem Kind hat für ein wenig Geld ein Zelt als Klassenraum gebaut. In den Tagen danach kam er aber immer wieder an, war jedes Mal betrunken und wollte mehr Geld von FSL haben. Als wir ihm nichts geben wollten ist er irgendwann ausgerastet und hat das Zelt wieder abgerissen. Eine Woche später hat er seine Nichte zusammengeschlagen und allen anderen Kindern gedroht, dass er sie umbringe, wenn sie noch mal zur Zeltschule kämen“.
Doch man sehe kleine Fortschritte, meint Meret: „Die kleinen machen Fortschritte in englischen Wörtern, Größere haben Lesen, Schreiben und Rechnen durch die Zeltschule gelernt und zwei Schüler wurden eingeschult, seit ich hier bin“. Ein Schüler davon habe sich innerhalb eines Jahres in der Zeltschule Kannada lesen, schreiben und sprechen beigebracht. Wenn die Schüler jeden Tag kommen, sei der Lernprozess am besten. „Unser Unterricht ist nicht zu vergleichen mit dem, den ich in meiner Grundschulzeit hatte“, sagt Meret: „Aber ich war auch mit gleichaltrigen Schülern in einer Klasse und auf meinem Nachbartisch lag kein schreiendes Kleinkind“. Das Alter der Schüler reicht von zwei bis fünfzehn. Deshalb sei der Unterricht mehr auf spielend lernen aufgebaut.
Ob sie manchmal Zweifel an ihrer Arbeit habe? „Das ist schwierig. Ob alles so nachhaltig ist, weiß ich nicht. Solange wir hier sind und uns ins Zeug legen, ist das ja alles ganz gut. Aber wenn wir weg sind, wer weiß was bleibt?“ sagt Meret nachdenkend. Manchmal kommt sie in die Zeltsiedlung, will ein Kind zum Unterricht abholen und muss feststellen, dass die Familie über Nacht weiter gezogen ist. „Wir müssten viel mehr mit den Eltern arbeiten, aber da haben wir einfach keine Zeit für. Eigentlich sollten wir Hilfe zur Selbsthilfe geben. Manchmal frage ich mich aber, ob das, was wir machen, nicht schon mehr als nur Hilfe zur Selbsthilfe ist. Und ob nicht eigentlich die Familien selber mehr machen müssten“, sagt sie.
Für die nahe Zukunft hat Meret schon Pläne. Sie hat in Stuttgart ein bisschen Geld gesammelt und will damit ein paar Ausflüge mit den Kindern machen: „Für die meisten ist es schon voll cool, wenn sie mal aus ihrer gewohnten Umgebung rauskommen. Im September waren wir mit einer Zeltschule am Meer. Zwei der Mädchen, haben zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer gesehen, obwohl es nur eine halbe Stunde mit dem Bus entfernt ist“. Vielleicht geht es diesmal nach Murdeshwara, zur größten Shiva-Statue der Welt.
Es sind diese kleinen Freuden, die sie den Kindern macht und das bisschen Liebe und die Aufmerksamkeit, die sie ihnen jeden Tag geben kann. Das, weiß sie, wird nach ihrem Freiwilligenjahr nicht umsonst gewesen sein. Und immerhin, ein paar Schicksale, die ohne sie vielleicht anders verlaufen wären.
Quellen: UNICEF, CIA-Factbook, FAZ-online
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