Montag, 17. Oktober 2011

Das wandelnde Elend


Wenige Minuten zuvor spürte ich Verlangen nach einer Packung Chips. Als der Mann mit dem grauenvollen Knick im Oberarm vor mir stand, kam ich mir wegen diesem Gefühl schlecht vor.
Auf einer Zugfahrt ging er von Abteil zu Abteil und stellte seinen verkrüppelten Arm zur Schau, in der Hoffnung, Mitleidsgeld zu kassieren. Er streckte mir die bettelnde Hand entgegenstreckte und durchlöcherte mit seinem unterwürfigen Blick mein Gewissen. Ich wünschte, ich hätte ein oder zwei Rupees über, hatte aber nur große Scheine im Portmonnaie und gab ihm nichts. 
Im Gegensatz zu Kindern, jungen Frauen und jungen Männern, kann man Alten und Behinderten Geld geben. Den Kindern sollte man nichts geben, weil sie von anderen unterdrückt und zum Betteln gezwungen werden und selber nichts von den Almosen haben. Wie verrückt das ganze ist, sieht man, wenn man ihnen statt Geld Kekse oder Früchte geben will. Meist lehnen sie zuerst ab, um zu zeigen, dass sie unbedingt Geld brauchen. Nach kurzer Zeit nehmen sie das Essen trotzdem.
Ausgewachsene Männer oder Frauen sieht man meist gar nicht betteln. Manchmal sieht mansie trotzdem. Im Kundapur Busbahnhof lungert meistens ein jämmerliche Gestalt von Mann herum. Mit leerem Blick und Alkoholfahne betascht er die Beine der wartenden Fahrgäste und fragt nach Geld. So Leid er mir auch tut, das Geld was man ihm am Morgen geben würde, würde wohl noch vor Mittag in Alkohol umgetauscht werden.
Anders ist es hingegen bei alten und Behinderten. Manche alte Menschen hier sind zu gebrechlich zum arbeiten und haben selbst keine Nachkommen mehr, die für sie sorgen. Durch Spenden und Almosen wird ihr Überleben gesichert. Ebenso ist es bei Menschen mit Behinderungen. Meist sieht man jedoch nur die, mit körperlicher Behinderung betteln. Ich habe schon Menschen ohne Beine, Menschen mit verdrehten Armen und Beinen und Menschen, die sich nur auf allen Vieren fortbewegen können, gesehen. Diese Menschen sind auf die Hilfe anderer angewiesen und können sich auf andere Weise nicht selbst versorgen. Ihnen kann man guten Gewissens ein paar Rupees geben. Es soll auch welche geben, die sich absichtlich verkrüppeln, damit sie betteln können, denen sollte man theoretisch nichts geben. Aber wer kann das schon unterscheiden. Auf jedem gut besuchtem Festival findet man irgendwo auch einen, der bäuchlings im Dreck liegt und in einem Topf Geld sammelt. Wenn man dann genauer hinsieht, erkennt man dass er so verkümmerte Gliedmaßen hat, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt. So einen Anblick vergisst man nicht mit der nächsten Abenddämmerung.
Oft sieht man auch blinde Menschen, wie sie sich an irgendetwas festhalten und die Hand herausstrecken. Zwischen Mysore und Ooty gibt es einen Busstop, der täglich angefahren wird. Dort lebt ein ca. 50 jähriger Mann, der seine Sehkraft verloren hat. Er durchwandert jeden Bus der anhält, in der Hoffnung, dass irgendjemand ihm einen Groschen in die Hand legt. Ich habe bisher viermal an diesem Zwischenstopp Pause gemacht und jedes Mal kam er das Treppe in den Bus hinaufgetastet und lotete sich mit vorsichtigen Schritten durch den Gang. Jedes Mal die gleiche Prozedur und jedes Mal denke ich mir, wie schwer es dieser arme Mann hat und wie gut es mir geht.
Nachts im Busbahnhof

Ein anderer Eindruck, der in mir hängen geblieben ist, hat mich ein bisschen an Dorothea Langes Dokumentarfotografie „Migrant Mother“ erinnert (Bernhardt Firley, mein ehemaliger Kunstlehrer, und mein alter Kunstleistungskurs müssten Bescheid wissen): Als wir in Mysore eines Abends auf einen Bus gewartet haben, haben sich in einer Ecke der Busbahnhofshalle einige Menschen Zeitung auf dem Boden ausgebreitet und sich dann darauf zum Schlafen gelegt. Meist waren das ältere und jüngere Männer und Frauen. Besonders ist mir eine Kleinfamilie aufgefallen, die auch dabei war. Vor den Augen aller wartenden Fahrgäste mussten die Eltern das Nachtquartier aufschlagen und ihren Kindern eine gute Nacht wünschen. Die beiden Kinder machten äußerlich gar nicht den traurigsten Anschein, der Vater schlief nach kurzer Zeit ein, aber die Mutter saß noch einige Zeit auf. Sie winkelte ihre Knie an, verkreuzte die Arme darüber und sah mit traurigem Blick durch die Halle. Natürlich kann ich keine Gedanken lesen, aber in ihrem Blick meinte ich erkennen zu können, dass sie sich wohl nichts lieber wünschte, als ihren Kindern eine vernünftige Bleibe bieten zu können. Was sich wohl eine jede fühlende Mutter wünscht.
Als ich zwei Tage später wieder im Bahnhof wartete, sah ich die Frau wieder. Sie saß zusammen mit ihrem Mann auf einer Bank und wartete wohl auf ihre Kinder und darauf, dass es ein bisschen später wurde und sie sich hinlegen könnte.

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